Im Rollstuhl nach Sibirien
Christian Tiffert ist wegen einer Querschnittslähmung an den Rollstuhl gefesselt. Aber nicht aufzuhalten. Diesen Herbst hat der Rostocker bereits zum dritten Mal Russland bereist und hinterher vor Rotariern in Moskau über seine Eindrücke und Erlebnisse gesprochen.
Auch Christian Tiffert hat nicht nur gute Tage. „Manchmal hängt man durch und denkt sich: Warum mache ich das eigentlich alles?“ Seit einem Sportunfall vor sieben Jahren ist der Rostocker vom Hals abwärts querschnittsgelähmt und im Alltag auf die Unterstützung von Assistenten angewiesen. Seinen E-Rollstuhl steuert er per Joystick mit dem Mund. Unlängst war der gelernte Maschinenbauer und frühere Marineoffizier, der zuletzt ein zweites Studium aufgenommen hat (Good Governance), mit einem Tross von Helfern nach 2017 und 2018 bereits zum dritten Mal in Russland unterwegs, besuchte soziale Einrichtungen und traf Menschen mit Behinderungen. Anschließend erzählte der 43-Jährige in Moskau Vertretern deutscher Rotary Clubs von seiner Reise, die ihn im Verlaufe von 30 Tagen auf insgesamt 7000 Kilometern bis nach Surgut in Nordsibirien führte. Er sprach dabei …
… darüber, was ihn immer wieder nach Russland zieht:
Ich habe in Deutschland alles Mögliche über Russland gehört. Dass man mir nicht gleich einen Grabstein geschenkt hat als Antwort auf meine Reisepläne, ist auch das Einzige, was nicht dabei war. Man bekommt kein Auto versichert, kein Auto ausgeliehen. Weil in der Köpfen drinsitzt, dass das alles sofort vom Hof geklaut wird. Und das ist einfach nicht so. Ich habe ein anderes Bild von Russland gewonnen. Und dann sind solche Reisen eben wirklich ein Abenteuer. Diese Dimensionen – beeindruckend! Wir sind ja 3500 Kilometer in eine Richtung gefahren. Wenn sie das von Rostock aus in eine andere Himmelsrichtung als nach Osten tun, dann landen sie im Wasser.
… über seine Eindrücke:
Man sieht viel Widersprüchliches. Städten wie Jekaterinburg, Sotschi oder Moskau geht es gut. Auf dem Lande fährt man durch ganze Dörfer mit verfallenen Häusern, weil die Leute in die Städte wegziehen. Es gibt aber auch Dörfer, wo alles frisch gestrichen ist und die Gärten gemacht sind, als wäre man in Bayern.
… über das Verhältnis der Russen zu Deutschland:
Man merkt überall, wie deutschinteressiert sie sind. Natürlich wollen alle auch ein bisschen Business machen, aber es schwingt noch etwas anderes mit. Es ist eine Herzlichkeit und Aufgeschlossenheit, die nach meinem Eindruck speziell gegenüber Deutschland und den Deutschen herrscht.
… über das Ziel seiner Reisen:
Ich mache keine Politik. Die Politik ist mir weitgehend egal. Mir sind die Menschen wichtig, die ich treffe. Und von diesen Begegnungen berichte ich dann in Deutschland, um Russland mal von einer anderen Seite zu zeigen. Ich will aber nicht nur reden. Deshalb habe ich in Rostock einen gemeinnützigen Verein gegründet, der sich für behinderte Kinder in Russland einsetzt. Und vor Ort spürt man immer wieder, was es für eine Wirkung hat, wenn da einer über tausende Kilometer hinweg vorbeikommt und sich für die Belange der Leute dort interessiert. Ich möchte denen ein Stück weit eine Stimme geben und auch die mediale Aufmerksamkeit dafür nutzen. Es geht nicht darum, mit dem Finger auf Missstände zu zeigen und zu sagen: Ihr müsst dies, ihr müsst jenes. Das ist nicht mein Anliegen. Es ist auch nicht so sehr die Frage, wie viele Bordsteine man absenkt, sondern dass die Bedürfnisse behinderter Menschen in den Köpfen der Gesellschaft ankommen. Und auch das, was sie leisten können.
… über die Resonanz an der Strecke:
In jeder größeren Stadt war der Pressetrubel enorm, auch durch die Kontakte der Rotarier. Immer hat mindestens ein TV-Team berichtet. Was die Treffen betrifft, haben sich hier und da auch Politiker Zeit für mich als Ausländer genommen, teilweise sogar am Wochenende. Das ist keine Selbstverständlichkeit.
… über die Behindertenfreundlichkeit in Russland:
Es ist sicher noch viel zu tun, gerade was den Zugang zu öffentlichen Gebäuden, zu Veranstaltungsorten betrifft. Das ist es, was ich mit dem Bewusstsein für die Bedürfnisse von behinderten Menschen meine. Ein Beispiel: Ich habe immer eine Rampe dabei, mit der man zwei Stufen überbrücken kann. In Kirow waren wir in ein tolles Restaurant eingeladen. Allerdings gab es eine Treppe davor. Also haben wir die Rampe rausgeholt und so bin ich ohne Probleme in das Restaurant gelangt. Am nächsten Tag hat der Hotelbesitzer seinen Techniker angewiesen, eine Rampe zu bauen. Weil er sich gesagt hat: Mensch, ich habe ja Leute vom Besuch hier ausgeschlossen, das wusste ich gar nicht. So etwas freut einen natürlich. Es tut sich etwas, das lässt sich auf jeden Fall beobachten.
… über sein Besichtigungsprogramm auf der Tour:
Von den Städten haben wir diesmal wenig gesehen und uns hauptsächlich soziale Einrichtungen angeschaut. Diese Treffen wurden von den Rotary Clubs vor Ort organisiert. Teils handelte es sich dabei um Rotary-Projekte, teils auch um private Initiativen, die in Russland meist von den Eltern ausgehen. Wobei man sagen muss, dass es auch einen Präsidentenfonds gibt, über den man sich um Fördergelder bewerben kann. Es ist also nicht so, dass die Projekte allein auf Spenden angewiesen sind. Aber die staatlichen Gelder fließen dann doch eher in infrastrukturelle Vorhaben. Für Spielzeug etwa muss das Geld selbst aufgebracht werden. Wir hatten auf unserer Tour Spielzeug für 1000 Euro im Gepäck, das wir dann in den Einrichtungen verteilt haben.
… über einzelne Sozialprojekte für Menschen mit Behinderungen in russischen Städten:
In Kirow haben wir ein sehr schönes Familienzentrum besucht, wo Kinder mit – hauptsächlich geistigen – Behinderungen aufs Leben vorbereitet werden.
In Surgut sind wir in einem adaptiven Sportzentrum gewesen, wo Behindertensportler für die Paralympics trainieren. Das Zentrum ist riesig und sieht total toll aus. Es gibt in Surgut auch eine Uni, an der Sportlehrer mit einer Spezialisierung als Trainer im Behindertensport ausgebildet werden.
In Jekaterinburg sind die Rollstuhlfahrer sehr stark. Ich bin mit zweien durch die Stadt gefahren, das war spannend. Eine Abgeordnete des Stadtparlaments, die ich treffen konnte, sitzt ebenfalls im Rollstuhl (Anastassija Nemez – d. Red.).
In Togliatti war es wiederum ein Familienzentrum, wo wir uns umschauen konnten und wo fantastische Arbeit geleistet wird. Man hat gemerkt, dass dort nicht viel Geld da ist. Wir haben zum Beispiel ein Kind gesehen, dass auf einem umgebauten Holzbrett durch die Gegend fährt. Doch andererseits machen die Kinder dort etwas ganz Tolles: Sie kümmern sich um Tiere aus dem Tierheim, sammeln Futter, übernehmen Verantwortung. Ich finde das eine geniale Idee.
In Saratow hat man uns ein Zentrum für Behindertensport gezeigt und uns mit Rollstuhltänzern bekannt gemacht. Es gab auch eine Vorführung, die sehr beeindruckend war. Die Gruppe tritt sogar international auf und hat den Wunsch geäußert, mal nach Deutschland und nach Rostock zu kommen. Da bahnt sich dann wohl das nächste Projekt an. Einer der Tänzer hat in Afghanistan seine Beine verloren. Nach der Veranstaltung ist er auf einem Holzbrett mit Rollen und mit zwei Holzklötzen in der Hand durch die Straßen gefahren. Da schluckt man erst mal.
… über die Russlandberichterstattung in Deutschland:
Als wir in Togliatti waren, sind wir auf einen gerade erschienenen Stern-Artikel über die Stadt aufmerksam geworden. Er zeichnet ein sehr düsteres Bild von der Stadt: Drogen, Kriminalität und so weiter. Das hat mich ein bisschen getroffen. Ich habe das anders erlebt, ich habe überhaupt meine Russlandreisen anders erlebt. (Anm. d. Red.: An dieser Stelle gab es lebhafte Reaktionen unter den Rotariern – Vertretern der deutschen Wirtschaft in Russland – im Saal. Es fielen Sätze wie „Das sagen alle Deutschen“ und „Wir erleben sehr viel anders“.) Die Berichterstattung über Russland in Deutschland ist doch sehr eingefärbt. Ich konnte den Artikel nicht bis zu Ende lesen und wollte das auch nicht.
… über mögliche weitere Russlandreisen:
Ich möchte so etwas eigentlich jedes Jahr machen. Das ist Balsam, wenn man sich so viel mit negativen Dingen beschäftigen muss wie ich. Ich werde also auf jeden Fall versuchen, auch im nächsten Jahr wieder durch Russland zu reisen. Es gibt auch schon Ideen, wohin.
Aufgeschrieben von Tino Künzel